Wie zuverlässig ist die Bibel?
Was ist zur historisch-kritischen Forschung
zu sagen?
Im Rahmen der Erforschung der Entstehungsgeschichte der Bibel wurden unzählige, teils sich gegenseitig widersprechende Hypothesen zu den einzelnen biblischen Büchern und Schriften aufgestellt. Die tradierten Verfasserschaften und Entstehungszeiten der biblischen Bücher wurden und werden in größerem Umfang bestritten.
Die Bücher Mose stammten nicht von Mose, sondern wären erst viel später zur Königszeit und in der babylonischen Gefangenschaft verfasst worden. Die Erzählungen der Urgeschichte wären nur altbabylonischen Mythen entlehnt. Im ersten Buch Mose fänden sich verschiedene Erzählungsstränge („Quellenscheidungs- theorie“), die erst viel später durch einen Redaktor vereinigt worden seien. Das Buch Jesaja stamme nur zum ersten Teil von Jesaja, die weiteren Teile von einem anderen ggf. zwei anderen unbekannten Verfassern. Einige Briefe des Apostels Paulus, des Apostels Petrus und des Apostels Johannes stammten nicht von ihnen. Ob die von den Evangelisten überlieferten Worte Jesu tatsächlich von ihm so gesprochen worden seien, erscheine zweifelhaft. Die Evangelisten hätten die Worte und Taten Jesu bewusst nicht als Berichte nach Daten und Fakten, sondern vor allem als eine theologische Komposition verfasst. Die Evangelien wären erst recht spät aus der Gemeindetradition heraus schriftlich verfasst worden und seien in ihren Details widersprüchlich.
Insgesamt wäre es bei den Schriften des Alten und Neuen Testaments auch zu Überlieferungs-, Übersetzungs- und Abschreibfehler, sowie zu bewussten Ergänzungen und Auslassungen gekommen. Deshalb müsse immer wieder versucht werden, aus den uns heute vorliegenden Bibeltexten, die ursprünglichen Textgrundlagen zu rekonstruieren. Nur so könne man die eigentlich gemachten Aussagen ergründen.
In Folge wird dann gefragt, wie in Anbetracht solcher Entstehungsprozesse von der Bibel noch als dem „zeitlos verbindlichen und untrüglichen Wort Gottes“ gesprochen werden könne? Vielmehr müsste davon ausgegangen werden, dass die Worte und Taten Gottes von Menschen nach ihren persönlichen und den Vorstellungen ihrer Zeit, bruchstück-, fehler- und legendenhaft überliefert worden seien. Danach hätten die Textüberlieferungen mehr oder weniger eine Eigendynamik gewonnen. Insgesamt könnten die biblischen Schriften nur als Urkunden des persönlichen Glaubens ihrer Verfasser bzw. den Absichten ihrer späteren Redaktoren und nicht als das offenbarte Wort Gottes betrachtet werden. Das „Wort Gottes“ wird zu einer subjektiven „Urkunde des Glaubens“ heruntergestuft. Damit wird die Glaubwürdigkeit und zeitlose Geltung der biblischen Aussagen kritisch in Frage gestellt.
Was ist zu solchen historisch-kritischen Einwänden generell zu sagen?
Die vielen unterschiedlichen historisch-krititischen Thesen zur „Schriftwerdung“ wie auch zum jeweiligen Textverständnis dürfen nicht einfach als „wissenschaftlich bewiesen“ deklariert werden. Dies geschieht aber weitgehend in populistischer Weise in den Medien und leider auch an theologischen Fakultäten, was eine mehr oder weniger glaubenszersetzende Wirkung entfaltet. Hier sei wiederum Karl Barth zitiert: „Kritischer müssen die Historisch-Kritischen sein.“ Andererseits können nicht alle Thesen, die auf historisch-kritische Weise gewonnen wurden, pauschal und undifferenziert verworfen werden, und man darf die sachliche Auseinandersetzung nicht scheuen (1. Petr. 3, 15).
Von den historischen Kritikern muss die Bereitschaft eingefordert werden,
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sich ernsthaft mit Gegenargumenten auseinanderzusetzen und dem sich inhaltlich nicht dadurch zu entziehen, in dem alle Gegenargumente als unwissenschaftlich und biblizistisch diskreditiert werden;
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einzuräumen, dass die historisch-kritischen Thesen naturgemäß einen mehr oder weniger großen Anteil an Schlussfolgerungen und Spekulationen beinhalten, was sie zu Hypothesen macht, die eben zu hinterfragen sind;
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einzuräumen, dass die verschiedenen, auf kritisch-historische Weise gewonnenen Einsichten sich oftmals gegenseitig widersprechen;
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einzuräumen, dass seit Beginn der historisch-kritischen Bibelforschung häufig nur eine „Modemeinung“ die andere abgelöst hat;
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einzuräumen, dass im Rahmen der historisch-kritischen Untersuchungen das in den biblischen Schriften enthaltene Selbstzeugnisses ihrer Entstehung, ihrer göttlichen Absicht und Verbindlichkeit von vornherein bezweifelt und kaum weiter berücksichtigt werden;
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einzuräumen, dass die historisch-kritische Bibelforschung überwiegend mit einem rationalistisch-kritischen Vorverständnis die biblischen Texte untersucht (Gotteserscheinungen und Offenbarungen sowie Prophetie und Wunder werden generell rationalistisch in Frage gestellt);
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einzuräumen, dass die an der Bibel angebrachte Literaturkritik zumeist in eine Kritik an der Art und Weise der Offenbarung Gottes mündet oder den Offenbarungscharakter überhaupt bestreitet;
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einzuräumen, dass auf weltlich, historisch-kritische Weise das mit Gottes Offenbarung beabsichtigte verbundene Heilswirken an den Herzen der Menschen – nämlich Glauben zu erwecken - naturgemäß nicht erfasst, erkannt oder gar gefördert und gestärkt wird, sondern häufig das Gegenteil einer Verdunklung der Offenbarung, ihres Verständnisses und ihrer Glaubwürdigkeit geschieht.
Was ist zu den historisch-kritisch thematisierten Fragen der Verfasserschaften und Datierungen der biblischen Schriften sowie deren Überlieferungszuverlässigkeit zu sagen?
Dass den Büchern des Alten Testaments ein Entstehungsprozess vorausgegangen sein mag, der mit einer zunächst mündlichen Überlieferung begonnen hat, dann über schriftliche Vortexte bis hin zur endgültigen Abfassung gegangen ist, kann grundsätzlich nicht ausgeschlossen werden. Wobei aber zu berücksichtigen ist, dass eine mündliche Überlieferung heiliger Texte nicht von vornherein als zu unsicher einzustufen ist. So können z.B. heute noch einzelne Muslime den gesamten Koran auswendig. Bei Mose ist zu bedenken, dass er am Hof des Pharao erzogen wurde und damit höchstwahrscheinlich auch schreiben konnte. Die folgenden schriftlichen Überlieferungen heiliger Texte waren in Israel geradezu perfektioniert. So wurde bei Abschriften biblischer Schriften, u.a. die Anzahl der Buchstaben in jeder Zeile kontrollhaft nachgezählt. Die 1947 in Qumram aufgefundene Jesajarolle, geschrieben im 2. Jahrhundert vor Christus, stimmt mit dem Buch Jesaja in unseren heutigen Bibeln mit großer Genauigkeit überein. Das ist der Nachweis einer fehlerfreien schriftlichen Überlieferung über einen Zeitraum von über 2200 Jahren!
Die historische Kritik fragt weiter: Wenn nun bei den biblischen Büchern und Schriften ein Entstehungsprozess nicht ausgeschlossen wird, welches soll dann der zeitlos verbindliche Text der Bibel (sogenannter „Urtext“) sein?
Die Abfassung und Sammlung der alttestamentlichen Schriften (Kanon) war zur Zeit Jesu inhaltlich im Wesentlichen abgeschlossen. Und Jesus hat sich immer wieder auf das Alte Testament bezogen und sich zu ihm als dem Wort Gottes bekannt. Er hat zwar dessen falsche Auslegung durch die Pharisäer und Schriftgelehrten scharf kritisiert, aber nicht die Schriften und Texte als solches. Mit anderen Worten, das Jesus vorliegende Alte Testament ist von ihm nochmals autorisiert worden. Damit verliert der Entstehungsprozess mit den Fragen nach mündlichen Vorüberlieferungen, Verfasserschaften, Redaktoren, Datierungen und Zuverlässigkeit der Überlieferungen seine theologische Bedeutung. Jesus hat das Alte Testament in der Form, wie es zu seiner Zeit im Gebrauch war, als Wort Gottes autorisiert. Das ist der für die Christen maßgebliche „Urtext“. Das heißt dann auch, dass ein aus diesen Texten vorgenommene mehr oder weniger spekulative Rekonstruktion eines angeblich vorhergehenden Textes mit differierender Aussage nicht mehr die Autorität als Wort Gottes in Anspruch nehmen kann. Ein rekonstruierter vermuteter „Ursprungstext“ mit verändertem Sinn ist eben gerade nicht mehr Gottes Wort an uns.
Die Evangelien des Neuen Testaments mit den Worten, den Berichten vom Leben, Sterben und Auferstehn Jesu wurde von den vier Evangelisten aufgrund eigenen Erlebens und / oder aufgrund der Schilderung von ihnen bekannten Augen- und Ohrenzeugen niedergeschrieben. (Im Alten Testament wird die Forderung erhoben, dass ein Ereignis mit den Aussagen von zwei bis drei Zeugen bestätigt werden müsse.) Die Evangelisten Matthäus und Johannes waren Jünger Jesu. Der Evangelist Markus war ein Begleiter der Apostel Petrus und Paulus und gehörte vielleicht auch zum Jüngerkreis Jesu (Mk. 14, 51). Der Evangelist Lukas war ein Begleiter des Apostels Paulus.
Von der vorherrschenden historisch-kritischen Seite wird die Abfassung der Evangelien zwischen 80 – 95 n.Chr. Datiert, von anderer Seite schon zwischen 60 – 80 n.Chr. (Frühdatierungen). Überwiegend maßgeblich für die historisch-kritischen Spätdatierungen ist, dass in den Evangelien die Zerstörung des Jerusalemer Tempels prophezeit ist. Würde zugestanden, dass die Evangelien vor der Zerstörung im Jahr 70 geschrieben worden seien, so wäre das der Beweis einer echten Prophetie, der nicht in das rationalistische Gesamtkonzept passt. Insgesamt bleibt jedoch festzustellen, dass nach ganz allgemeiner Überzeugung die Evangelien nur wenige Jahrzehnte nach Jesu Tod und Auferstehung von seinen Augen- und Ohrenzeugen für die Gemeinde Christi niedergeschrieben worden sind.
Da die Umgangssprache Jesu und der Apostel aramäisch war, die Evangelien und Briefe aber in griechisch verfasst sind, werden insbesondere von historisch-kritischer Seite eine vorausgehende aramäisch / hebräisch verfasste Quellensammlung („Logienquelle“) oder auch entsprechende Evangelien-Vortexte vermutet und auch Übersetzungsfehler werden für möglich gehalten. Deshalb hat man Rückübersetzungen von den griechischen Evangelientexten ins Aramäische vorgenommen, um so einen vermeintlich ursprünglicheren und zuverlässigeren Text zu gewinnen. Aber das, was zu den spekulativen Rekonstruktionen angeblich vorhergehender Texte zu alttestamentlichen Schriften gesagt ist, gilt entsprechend auch für das Neue Testament. Wenn eine Rückübersetzung den griechischen Textsinn nur positiv erläuternd erhellt, ist dagegen nichts einzuwenden. Wenn aber eine Rückübersetzung zu einer differierenden Aussage führt, kann diese für sich nicht mehr die Autorität als Wort Gottes in Anspruch nehmen.
Bei all den Fragen zur Entstehung des Alten und Neuen Testaments muss an erster Stelle stehen, dass in und mit diesen Büchern und Schriften sich Gott uns offenbart hat. Er hat durch das Wirken seines heiligen Geistes, auf welche Art und Weise auch immer (unmittelbare Inspiration oder mittels Entstehungsprozessen), die „Schriftwerdung“ veranlasst und auch die Überlieferung gesteuert (Joh. 14, 26; 2.Ti. 3,16; 2.Petr. 1,21). Für das Alte Testament war der Abschluss der Schriftwerdung schon vor oder spätestens mit dem Kommen Jesu erreicht, für das Neue Testament mit der abschließenden Niederschrift der Evangelisten und Apostel und der Annahme durch die Gemeinde Jesu Christi. Diese jeweils so abgeschlossenen Texte sind der sogenannte „Urtext“. In dieser Form hat Gott die Bibel gewollt und uns gegeben. In weiten Teilen der Theologie besteht Einigkeit, dass die ca. 3000 uns vorliegenden handschriftlich überlieferten biblischen Texte mit ihren Varianten dem „Urtext“ zu weit über 90% entsprechen. Nach dem Wortlaut des Urtextes dürfen und sollen wir durchaus weiter archäologisch und literarisch forschen (sogenannte „niedere Schriftkritik“), aber eben nicht vermeintlich vorhergehende Texte rekonstruieren wollen. Wir müssen uns immer sagen, so wie uns die Bibel heute vorliegt, so hat sie Gott gewollt, so hat er sie uns überliefert und uns als sein Wort gegeben. Es bleibt der Theologie und uns nur zu fragen und zu verstehen, was Gott uns im Einzelnen mit seinem Wort sagen will.
Detlef Löhde
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