Wer ist denn mein Nächster?
Geschichte vom barmherzigen Samariter (Lk. 10, 25 ff.)
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Ein Schriftgelehrte fragt Jesus: „Was muss ich tun, dass ich das ewige Leben ererbe?“
Das war damals bei den Rabbis eine Ausgangsfrage für ihre theologischen Debatten. Und sie ist ja bis heute die entscheidende Frage für den Menschen. Jesus aber gibt seiner Überraschung Ausdruck. Was für eine Frage, du kennst doch das Gesetz, du hast es doch studiert und betetest zweimal täglich mit dem Glaubensbekenntnis, dem Sch'ma Israel, die Antwort. So frage ich dich „Was steht im Gesetz geschrieben? Was liest du?“ Der Schriftgelehrte antwortete. „Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen und von ganzer Seele, von ganzen Kräften und von ganzem Gemüt, und deinen Nächsten wie dich selbst.“ - Na also, du weißt es doch, ist doch ganz einfach, warum hast du mich eigentlich gefragt? „Du hast recht geantwortet; tu dass, so wirst du leben.“
Der Schriftgelehrte fühlte sich jetzt wie ein Schuljunge, dem eine Lehre erteilt worden ist. Deshalb wollte er sich für seine Frage rechtfertigen: Nein, nein, Jesus, so dumm ist meine Frage nicht und auch nicht so einfach zu beantworten, wie du es tust. Du
scheinst die theologische Tiefe meiner Frage nicht erkannt zu haben. „Wer ist denn mein Nächster?“ Wer steht mir denn so nahe, dass ich ihm vor Gott zur Liebe verpflichtet bin?
Wer gehört zum Kreis meiner Nächsten - meine Familie, meine Brüder der schriftgelehrten Rabbis, oder auch andere fromme Juden oder gar jeder Jude? Mein Nächster, das kann
doch nicht jeder sein, sonst hieße es ja schließlich nicht „mein Nächster“, sondern „Jeder“. Ich kann doch nicht jedem zur Liebe verpflichtet sein, das wäre ja überhaupt nicht machbar!
Den Einwand, dass man die Gebote Gottes nur so auffassen könne, dass sie noch zumutbar und im Alltag auch „machbar sind“, den hören wir bis heute. Aber das ist nicht Gottes Maßstab, sondern es ist, von Gottes Gebot etwas abschneiden wollen. Also Jesus sage mir nun, wer zum Kreis meiner Nächsten gehört, denen ich vor Gott zur Liebe verpflichtet bin.
Da wird auch für uns die Frage ganz aktuell: „Sind denn die Flüchtlinge, die jetzt in unser Land gekommen sind, etwa unsere Nächsten? Wie können die unsere Nächsten sein, die kommen doch von weit her, gehören nicht zu uns und sind auch so ganz anders als wir und bereiten uns doch große Probleme?“ Dass der von Gott gesetzte Staat das Recht hat, über Asyl- und Leistungs-gewährung zu entscheiden und es auch reichlich Probleme und Missbrauch gibt, darf keinen negativen Einfluss auf mein persönliches Verhalten gegenüber einem vor mir stehenden Flüchtling haben! Nüchternheit und Zügeln negativer
Emotionen und Barmherzigkeit ist gefordert. Die gewalttätigen Aggressionen gegenüber Flüchtlingen sind zutiefst unchristlich.
Jesus gibt auf die Frage, wer denn jeweils mein Nächster ist, keine allgemein theologisch komplizierte Antwort, die zu diskutieren wäre, was aber der Schriftgelehrte erwartet hatte. Sondern Jesus erzählt die Beispielgeschichte vom barmherzigen
Samariter. Da ist ein Mensch von Jerusalem nach Jericho gezogen, wurde überfallen, geschlagen und halbtot am Straßenrand liegen gelassen. Da kam zuerst ein Priester und
dann ein Levit, also ein Tempeldiener, dieselbe Straße entlang und gingen an dem Halbtoten einfach vorbei. Die Beiden wären auch aus Sicht des Schriftgelehrten eigentlich zur Nächstenliebe verpflichtet gewesen.
Aber es konnte ja sein, dass sie ihren zeremoniell religiösen Pflichten Vorrang eingeräumt haben und sie diese vor ihrem Gewissen als Vorwand und Ausrede benutzt haben. Sie mussten doch pünktlich zum Tempeldienst erscheinen und durften sich zuvor auch nicht verunreinigt haben, in dem sie mit Blut oder einem Sterbenden in Berührung gekommen waren. Muss ein Menschenleben und die Nächstenliebe dem zeremoniell-religiösen Gesetz nachgeordnet werden? Jesus widerspricht dem und heilt so auch am Sabbat einen Kranken (Mk. 2, 27). Vielleicht aber machten sich der Priester und Levit auch nur aus Angst vor den noch irgendwo versteckten Verbrechern schnell aus dem
Staube. Sie wussten um Gottes Gebot der Nächstenliebe schon, aber sie handelten nicht danach. Nun wollen wir nicht mit Steinen nach ihnen werfen, geht es bei uns nicht auch oft so, dass wir Gottes Gebot wohl kennen, dann aber doch anders handeln und damit sündigen?
Solch ignorantes Verhalten wie das des Priesters und Leviten ist nicht so einmalig.Hören wir doch immer wieder, dass da einer auf der Straße am Boden liegt und die Passanten vorbeigehen. „Ist nicht meine Sache, ich kenne ihn auch nicht, wird wohl besoffen sein, ist ein Penner oder Junkie; vielleicht sind ja die Schläger noch in der Nähe, also nichts wie weg.“ Gängige Ausflüchte, um nicht helfen zu müssen. Aber auch nicht ganz aus der Luft gegriffen. Es ist nicht immer nur Kaltschnäuzigkeit, Gleichgültig- keit oder egoistische Eile. An einen am Boden liegenden verletzten Unbekannten heranzugehen, um ihm zu helfen, das bedeutet auch ein gewisses Risiko einzugehen, Angst oder Ekel oder Vorurteile zu überwinden, sich zu beschmutzen, Zeit und Geld zu opfern. - Und das soll ich alles für einen Unbekannten tun? Das mutet mir Gott doch nicht zu oder? - Ich meine schon, aber weil wir von irgendwie Hilfsbedürftigen doch auch immer mal wieder weggucken, deshalb sind auch wir immer wieder auf die Vergebung Jesu angewiesen. Jesus stellt dem Verhalten des Priesters und Leviten das des Samariters gegenüber: Ein feindlich verachteter Ausländer und halber Heide, ein Samariter, der aus Sicht der Schriftgelehrten wahrhaft dem Überfallenen nicht als Nächster zur Hilfe verpflichtet war. Aber der folgt seinem Gewissen, das das Gebot Gottes noch nicht verdrängt hat und hilft einfach. Umgekehrt wäre der Schriftgelehrte nie auf die Idee gekommen, dass er als rechtgläubiger Jude nach Gottes Gebot einen feindlichen fast heidnischen Samariter als seinen Nächsten zu lieben hätte.
Uns stellt sich ja aktuell die Frage, ob wir denn tatsächlich nach Gottes Gebot auch einen überzeugten bis feindlich gesinnten Muslim zu lieben haben? Ja, Jesus Christus spricht (Mt. 5, 44 ff.): Liebet auch eure Feinde. Wenn ihr nur die liebt, die euch lieben, was tut ihr Besonderes, das tun auch die Heiden.
Bei dieser Liebe zum Nächsten geht es nicht um ein Gefühl, etwa dass ich jeden Menschen, und auch meinen Feind, sympathisch zu finden und zu umarmen habe. Das wäre tatsächlich über- menschlich. Zu solcher vollkommenen Liebe sind wir aufgrund unserer Erbsünde nicht fähig. Solche Liebe bringt allein der Herr Christus auf. In Jesus Christus liebt Gott jeden Menschen und will ihn zum Heil führen, auch den, der unser Feind ist oder den wir für das größte Ekelpaket halten. Mit der Nächstenliebe ist von uns also nicht zuerst das Gefühl persönlicher Zuneigung gefordert, sondern praktische Barmherzigkeit, wie Jesus spricht (Lk. 6,36): „Seid barmherzig, wie auch euer Vater barmherzig ist.“– ohne Ansehen der Person einem Notleidenden zu helfen, selbst wenn er mein Feind ist. Ein Mensch, der in Not geraten ist und dem ich helfen kann, der ist mir von Gott zu meinem Nächsten anvertraut worden.
Wir haben also natürliche Nächste, also Menschen, die uns persönlich nahe stehen, nämlich unsere Angehörigen, unsere Glaubensgenossen, unsere Landsleute und dann die mir von Gott „vor die Füße gelegten Notleidenden“, denen ich zu helfen vermag. Ohne Ansehen der Person, ohne Ansehen der Religion, der Nationalität oder des Geschlechts, ist der mein Nächster, der in Not ist und dem ich zu helfen vermag. Dadurch, dass ich im
Stande bin, einem Notleidenden zu helfen, ist er mein Nächster geworden, dem ich Hilfe schuldig bin.
Zum Schluss der Geschichte fragt Jesus den Schriftgelehrten, was meinst du, wer ist dem Überfallenen zum Nächsten geworden? Da muss er widerstrebend eingestehen: „Der, der Barmherzigkeit an ihm tat.“ Und Jesus sprach zu ihm: „So geh hin und tu desgleichen.“ Klammer auf: Und dann wirst du sehen, dass es dir nicht durchgängig gelingt, das Gebot der Nächstenliebe in Vollkommenheit zu erfüllen und du durch
Gesetzeserfüllung vor Gott nicht gerecht werden kannst. Sondern dass du auf die Barmherzigkeit Gottes in seinem Sohn gewiesen bist. Allein auf diese Weise kannst du das ewige Leben ererben.
Wenn wir die Beispielgeschichte vom barmherzigen Samariter genau hören, dann fällt uns sein Übermaß an Liebe auf. Er versorgt die Wunden des Überfallenen, bringt ihn in Sicherheit und sorgt und bezahlt noch bis zu seiner endgültigen Genesung. Mit dem barmherzigen Samariter hat Jesus auch ein Bild von sich selbst gemalt. Wir sind es, die auf dem Lebensweg unter die Räuber gefallen waren, unter Sünde, Tod und Teufel. Verschiedene religiöse Führer sind an uns vorbeigegangen. Bis Jesus gekommen ist, uns aufgeholfen hat, das Wasser der Taufe und den Wein seines Blutes auf unsere Wunden gegossen hat und von der Sünde desinfiziert hat, damit die tödliche Wunde heilen kann. Die hat er uns verbunden und zur Genesung in die Herberge der Kirche gebracht. Für unsere Rettung hat er mit seinem Leib und Blut bezahlt. Und er wird wiederkommen, um uns zur ewigen Heilung, zum ewigen Leben zu sich zu holen.
Amen
Detlef Löhde